Vor meinem Projekt in Mysore, Sneha
Kiran, einer Schule für Behinderte, war ich in Bangalore, Advaith
Foundation, in einem Kinderheim für Kinder aus armen Familien. Ich
habe nach den Weihnachtsferien das Projekt gewechselt.
Bevor ich den Freiwilligendienst in
Indien angetreten bin wurde in den Medien eine Menge von
Vergewaltigungen berichtet, weswegen meine Freunde und Familie nicht
besonders glücklich waren, dass ich mir Indien für mein
Freiwilligenjahr ausgesucht hatte. Ich hatte damit gerechnet ständig
aufpassen zu müssen, ich dachte es sei gefährlich. Auch habe ich
damit gerechnet, in einem kleinen Dorf am Rande von Bangalore zu
landen, weshalb ich auch die Hälfte meines Koffers mit Kultur- und
Hygieneartikeln gefüllt hatte. Ich hatte mit Schmutz und Bakterien
und vielen kleinen Krabbeltieren gerechnet. Darauf war ich
vorbereitet. Mit tausend Impfungen, Mückenspray und -netz,
Desinfektionsmitteln, Shampoo und Deo ging es dann los!
Als ich dann in Bangalore in meinem
Projekt angekommen war, war es dann nicht ganz so. Der Campus war
riesig, alles war modern, fast moderner als einige Kinderheime in
Deutschland. Ich hatte quasi mein eigenes Apartment, welches ich erst
nach drei Monaten mit einer anderen Freiwilligen teilen musste, die
dann neu hinzu kam. Es war größer und auch sauberer als in meinem
eigenen Zimmer in Deutschland, da jeden Tag Putzfrauen kamen und alle
Zimmer säuberten. Das Projekt war zwar nicht zentral gelegen, jedoch
konnte ich innerhalb von anderthalb Stunden die Innenstadt erreichen,
die sehr groß und fortgeschritten war.
Ich merkte auch schnell, dass die
Medien übertrieben hatten. Auf der Straße liefen zwar viele Männer
herum die einen anstarrten, vermutlich wegen der Hautfarbe, und
überall sah man Männergruppen herum stehen, die einen oft nicht nur
anstarrten sondern auch auf Englisch ansprachen wenn man gerade auf
ihrer Höhe an ihnen vorbei lief. Dinge wie „Hi, how are you?“
lernte man schnell zu ignorieren.
Meine Arbeit im Kinderheim bestand aus
der täglichen Therapie von hyperaktiven Kindern (drei mal täglich),
Hausaufgabenbetreuung, Vorschulunterricht (oft zwei mal täglich) und
Englischunterricht für drei Kinder mit Lernproblemen am Abend.
Zwischen den Stunden hatte ich meistens immer ein oder zwei Stunden
Pause zum ausruhen. Gleich von Anfang an arbeitete ich auch Samstags,
dafür sollte ich dann anstatt einem Monat ganze zwei Reisemonate
bekommen.
Problematisch war für mich anfangs,
dass ich in dem ersten Monat dort alleine war, beziehungsweise die
einzige Freiwillige war. Normalerweise sind dort immer 2-4
Freiwillige auf einmal, doch kurz vor meiner Ankunft waren alle
abgesprungen.
So ging ich nun alleine in diesen
eingezäunten Campus und fühlte mich etwas verloren. Bei über
hundert Kindern und mindestens fünfzig Betreuern ist das auch kein
Wunder, vor allem wenn die meisten Betreuer kaum oder kein Englisch
sprechen. Die Kinder und Lehrer hingegen konnten ausnahmslos alle
Englisch.
Die ersten zwei oder drei Tage fielen
mir wirklich schwer, doch schnell freundete ich mich mit ein, zwei
Lehrerinnen an und auch die Kinderbetreuer nahmen mich herzlichst auf
und auch wenn wir verschiedene Sprachen sprachen, so versuchten wir
uns auf anderen Wegen zu verständigen. Von den Kindern brauche ich
gar nicht zu reden, am ersten Tag hatten sie mich schon in Beschlag
genommen.
Die Arbeit in dem Projekt war nicht
ganz, was ich mir vorgestellt hatte. Ich musste zunächst einmal mit
kleinen Kindern arbeiten, zwischen drei und fünf Jahren, das kannte
ich noch nicht und auch wenn es anfangs hieß ich könne erst einmal
beim Unterricht zugucken für ein paar Tage, so stand ich am ersten
Tag meiner Arbeit vor neun kleinen lauten Kindern, die nicht auf mich
hören wollten und die Aufpasserin, welche die Kinder ruhig halten
sollte, hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und schien vor sich hin
zu dösen. Erst nach anderthalb Monaten schaffte ich es schließlich,
die Kinder selbst zu kontrollieren und ruhig zu kriegen, das war
eines meiner größten Erfolgserlebnisse dort!
Erst nach drei Monaten, das muss ich
zugeben, machte mir die Arbeit mit den kleinen Kindern erst richtig
Spaß.
In dem Gelände war neben dem
Kinderheim auch die Schule, auf welche die Kinder tagtäglich von 9 –
15 Uhr gingen, währenddessen ich dann frei hatte. Von außen kamen
auch jeden Morgen Schüler mit dem Schulbus angefahren um dort zur
Schule (Samhita Academy) zu gehen.
Finanziert wurde die Schule und das
Heim von eben diesen, denn die Kinder von außerhalb kamen aus eher
wohlhabenderen Familien, die monatlich einen gewissen Betrag an die
private Schule zahlen mussten. Ich habe mich einmal mit dem Vater
eines Mädchens unterhalten, der mir erklärte, dass die Schule zwar
etwas teurer war, verhältnismäßig, doch weil 20% des Einkommens an
das Kinderheim gingen, bezahlte er gerne etwas mehr, zur
Unterstützung. Außerdem gab der Gründer des Projekts auch viel
Geld und Energie in das Projekt Advaith Foundation, weshalb es den
Kindern an nichts zu fehlen schien. Sie bekamen Kleidung, Essen,
Trinken, Ausbildung und eine Menge an Betreuung und Zuwendung, sie
lernten Gitarre spielen von einem Lehrer, der einmal die Woche kam,
es gab Yoga-Klassen dreimal die Woche morgens und am Wochenende Tanz-
und Karate-Unterricht. Auf dem sehr großen Schulhof gab es einen
Basketballplatz, Fußballtore und einen Platz zum Kricket spielen,
drinnen Fernseher und Tischtennisplatten. Alles, was ein Kinderherz
begehrt! Außer die Eltern, die fehlten den Kindern natürlich. Diese
kamen einmal im Monat und an besondere Veranstaltungen vorbei, an
Feiertagen konnten die Kinder auch nach Hause, wenn sie wollten.
Die Zusammenarbeit mit meinen
Ansprechpartnern war sehr gut, wir verstanden uns bestens. In den
ersten Monaten ging ich jeden Tag zu Sunithas Büro um Fragen zu
stellen, Ideen auszutauschen oder einfach um mit ihr zu reden. Sie
war sehr freundlich zu mir und ich denke, sie mochte mich.
Der Alltag hatte sich nach bereits zwei
Wochen eingespielt. Ich lief von hier nach dort, von Klasse zu Klasse
und mir kamen immer mehr Ideen, was ich in den jeweiligen
Unterrichtsstunden mit den Kindern machen könnte und wie ich den
Unterricht am besten aufbauen sollte. Ich übte viel Kannada, die
Sprache die die Leute dort sprachen, und in Bruchstücken konnte ich
mich bald verständigen. Nach drei oder vier Wochen fühlte ich mich
schon als Teil der großen Familie dort und der erste Freiwillige
kam.
Die gesamte Zeit merkte ich jedoch,
dass es nicht das war, was ich mir erhofft hatte. Es war zu modern
dort, ich kam kaum aus dem Gelände heraus wodurch ich auch nicht
viel von Indien und der indischen Kultur mitbekam, so fühlte ich.
Ich fühlte mich etwas eingeschlossen, denn das Gelände war umzäunt,
man brauchte zwei vom Ansprechpartner unterschriebene Papiere um das
Gelände verlassen zu können und die nächste Bushaltestelle war
fünf Kilometer von dem Heim entfernt, weshalb man immer einen
persönlichen Fahrer anrufen musste, damit er einen dorthin brachte
und auch von der Haltestelle wieder zurück fuhr. Laufen durfte ich
nicht, mir wurde gesagt, der Weg sei zu Fuß zu gefährlich, denn das
Heim war am Ende einer unbewohnten und teils unbefestigten Straße,
wo sich kaum Menschen aufhielten. Jede Fahrt kostete, weshalb sich
kurze Ausflüge kaum lohnten.
Und auch wenn ich die Kinder schnell
ins Herz geschlossen hatte, so fühlte ich, dass sie mich dort nicht
wirklich brauchten. Ich wollte Kindern helfen, die nicht schon so
viel hatten wie diese, ich wollte helfen, wo noch nicht genug Hilfe
vorhanden war und wo es auch keine finanziellen Mittel gab um Lehrer
oder Betreuer einzustellen wenn nötig. Diese Überlegung veranlasste
mich schließlich auch dazu mein Projekt wechseln zu wollen.
Mein neues Projekt ist komplett anders
im Vergleich zu meinem vorherigen.
Die Schule ist klein und es sind
weniger Kinder da, circa 80, wenn alle da sind. Ich unterrichte
alles, was von mir verlangt wird beziehungsweise wo ich gerade
gebraucht werde, sei es Englisch, Mathe, Biologie oder Assistenz im
Kannada-Unterricht. Die Anzahl der Schüler in den Klassen ist eher
gering, vielleicht zwischen vier und zehn Kindern, sodass es mehr
Möglichkeiten für Einzelunterricht gibt um die Kinder ihren
Schwächen entsprechend fördern zu können.
Ab und zu helfe ich auch bei der
Physiotherapie, in der ich den Kindern beim Laufen helfe oder
versuche sie zu animieren, ihre schwächeren Körperteile in den
Übungen mehr einzusetzen.
Bevor ich nach Indien gekommen bin,
konnte ich mir kaum vorstellen in einer Schule als Lehrerin zu
arbeiten und unter keinen Umständen konnte ich mir vorstellen mit
Behinderten zu arbeiten. Als ich kurz vor meinem Projektwechsel
erfuhr, dass ich nun in einer Schule für Behinderte arbeiten sollte,
freute ich mich allerdings schon auf diese neue Erfahrung. Und es ist
eine komplett neue Erfahrung, von der ich froh bin, sie gemacht haben
zu dürfen.
Die Lehrerinnen dort sind sehr nett,
jedoch sprechen sie überwiegend Kannada wenn sie sich unterhalten,
obwohl alle genauso gut Englisch sprechen könnten. So wird die
Konversation mit ihnen oftmals stark einschränkt. Ich fühle mich
bisher nicht so integriert wie in meinem vorherigen Projekt,
vielleicht dauert es hier aber auch nur etwas länger. Ich bin
gespannt!
Auch meine Wohnsituation ist nicht
vergleichbar. Ich bin nun in einer Gastfamilie bei einem älteren
Ehepaar. Ich helfe in der Küche beim Kochen und mache meistens den
Abwasch. Das Haus ist klein, aber gemütlich, ich habe mein eigenes
Zimmer mit Dachterrasse.
Langsam habe ich mich an die Aufgaben
gewöhnt und ich kann meine Gasteltern besser einschätzen, was ihnen
recht ist und was nicht. Wir kommen sehr gut miteinander aus, auch
wenn wir uns in letzter Zeit kaum sehen, da beide im Moment sehr mit
ihrer Arbeit beschäftigt sind und ich viel in Mysore unterwegs bin.
Viel mehr kann ich noch nicht zu meinem
jetzigen Leben sagen, ich bin vor gerade einmal einem Monat
angekommen. Doch wobei ich mir bereits sicher bin ist, dass meine
Hilfe dort gebraucht wird.
Ich denke, die Vorbereitung in
Deutschland hat mir in sofern etwas gebracht, dass man sich mit
einigen Themen, Rassismus beispielsweise, noch einmal auseinander
gesetzt hat. Natürlich wusste man schon alles im Vorhinein, oder
zumindest war einem das Meiste was besprochen wurde klar, doch man
denkt nicht oft genauer darüber nach, eher unterbewusst.
Ansonsten war es eher so, dass ich mich
alleine zurecht finden musste, in keinem Moment habe ich an die
Vorbereitung in Deutschland oder eines dieser Themen gedacht. Praxis
ist doch anders als Theorie.
Ich habe gerade bewusst das Thema
Rassismus erwähnt, denn auch wenn man weiß, dass es existiert und
dass man selbst zum Ausländer wird im Ausland, so hatte ich mir
nicht viel dabei gedacht. Rassismus an eigenem Leib zu erfahren ist
dann doch wieder anders. Man wird angestarrt auf der Straße,
angesprochen, es gibt Eintrittspreise für Inder und viel teurere für
Touristen, man wird als reich abgestempelt wegen der Hautfarbe,
weshalb Händler oft das Dreifache verlangen usw. Das unangenehmste
ist jedoch das Anstarren, ich habe mich bis heute kaum daran gewöhnt,
in manchen Situationen zumindest.
Natürlich kann es auch genau anders
herum sein, dass Leute einen bevorzugt behandeln, gerade weil man aus
dem Westen kommt, doch wenn man in einem Land lebt will man nach
einer gewissen Zeit so behandelt werden als wäre man einheimisch.
Oftmals vergesse ich, dass ich anders aussehe als die ganzen Leute um
mich herum und wenn ich Leute aus anderen Ländern sehe sind sie
jedes Mal eine Erscheinung für mich, besonders wenn sie kurze,
knappe Kleidung tragen ist es für mich sehr merkwürdig. Dann
erinnere ich mich jedoch daran, dass ich selbst auch anders aussehe
als die indischen Menschen und ich merke, dass ich
niemals als eine der ihren angenommen werden kann ohne zuerst als Ausländer erkannt zu werden.
Dementsprechend vermisse ich zwischendurch die europäischen Länder, in denen man auch anonym durch die Straßen laufen kann ohne direkt von mehreren Seiten so angestarrt zu werden als käme man von einem anderen Planeten.