Sonntag, 27. Juli 2014

Abschlussbericht



Seit August letzten Jahres bin ich nun in Indien.
Nachdem ich jetzt ein halbes Jahr in Sneha Kiran – Spastic Society gearbeitet habe, kann ich die Arbeit dort heute besser beschreiben als in dem Halbjahresbericht. Am besten fange ich also noch einmal mit einer kleinen Übersicht über meine Tätigkeiten dort an.
Montags bis Freitags, von 10 – 15 Uhr, verbrachte ich meine Zeit in der Schule. Normalerweise musste ich einer Lehrerin folgen und ihr in den Unterrichtsstunden helfen, sodass ich einen halbwegs geregelten Arbeitstag hatte mit eigenen Klassen. Meine Hauptaufgabe war es, die Lehrerin zu unterstützen, mit ihr die Kinder in kleinen Gruppen jeweils zu unterrichten und entsprechend der Behinderung zu fördern soweit es möglich war. In jeder Klasse waren durchschnittlich fünf bis acht Kinder, sodass Einzelunterrichte teilweise möglich waren. Wenn ein paar Kinder intensiveren Einzelunterricht brauchten, wurde den restlichen Kindern zunächst einmal eine Aufgabe gegeben, die ihre motorischen Fähigkeiten verbessern sollten. Sobald die eine Hälfte der Klasse dann mit dem für den Tag vorgesehenen Unterrichtsstoff fertig waren bzw. keine Hilfe mehr von Lehrern brauchte, widmete man sich der anderen Hälfte der Klasse und gab den Kindern, die fertig waren, jeweils Geräte zur Verbesserung ihrer motorischen Fähigkeiten.

Ab und zu kam es vor, dass eine Lehrerin fehlte, dann wurde ich in andere Klassen gebeten und musste dort auch mal Klassen alleine unterrichten. Ich lernte die Kinder schnell kennen und erkannte, welches Kind gerne singt, welches Klänge mag und welches davon anfängt zu schreien, welches in der Lage ist zu begreifen und welches nicht ansprechbar ist.
Auch die Lehrer, mit denen ich anfangs nicht so viel zu tun hatte, da sie beim Mittagessen nur „Kannada“, die Sprache Karnatakas, sprachen und ich mich somit nicht so leicht integrieren konnte, lernte ich nach und nach etwas besser kennen. Mit der Lehrerin, der ich folgte, hatte ich nach ein paar Wochen bereits eine gute Verbindung. Sie freute sich über meine Hilfe, hatte selbst ab und zu ein paar Fragen zu Grammatik oder Rechtschreibung und wir unterhielten uns über mehr Themen als Essen und Familienstammbäume, also mehr als das, was ich tagtäglich in Indien gefragt wurde.
Lehrer, Aufpasser und Betreuerinnen der Kinder mir gegenüber sehr freundlich und hilfsbereit und wenn ich Fragen oder Probleme hatte, wusste ich, dass mir jederzeit jemand versuchen würde zu helfen. Insbesondere meine Projektbetreuer vor Ort waren sehr nett und wollten, dass ich in Sneha Kiran eine schöne Zeit habe. Sie waren offen für Verbesserungsvorschläge, fragten nach neuen Ideen für die Unterhaltung oder Ausbildung der Kinder. Ich wurde gut aufgenommen, zwar mit einer gewissen Distanz, jedoch hat man die Möglichkeit sich gut zu integrieren, nach einer kurzen Zeit, und auch hat man die Möglichkeit eigene Ideen einzubringen und zu verwirklichen.
In dem halben Jahr konnte ich den Lehrern bei der Arbeit helfen, auch bei der eigenen Weiterbildung, ich habe in den letzten Wochen meines Aufenthalts einen Teil der Schule gestrichen und mit kleinen Bildern verziert und versucht den Kindern jeden Tag so schön und auch spaßig wie möglich zu bereiten.


In Mysore war ich in einer Gastfamilie untergebracht, die aus einem älteren Ehepaar bestand, dessen Kinder bereits ausgezogen waren. Wir waren also nur zu dritt in dem Haus.
Morgens half ich meiner Gastmutter immer beim Kochen, was meistens eine Stunde in Anspruch
nahm. Gemüse waschen, schneiden, Zutaten heraus legen, spülen, essen. Sie zeigte mir, wie man verschiedene indische Gerichte zubereitet. Während des Morgens hatten meine Gastmutter und ich die Möglichkeit uns länger zu unterhalten, sie konnte sehr gut Englisch sprechen, und wir tauschten uns darüber aus, was wir am Tag unternehmen würden und ob etwas besonderes am Wochenende anstand oder sonstiges. Den Tag über war ich in der Schule und traf mich für gewöhnlich danach noch mit Freunden, während meine Gastmutter viel mit ihrer Arbeit in der Bank beschäftigt war und selbst erst nachmittags nach Hause kam. Tagsüber sahen wir uns also kaum. Mein Gastvater war bereits in Rente gegangen, weshalb er tagsüber normalerweise Zuhause war und Fern sah. Wenn wir abends alle wieder Zuhause waren aßen wir im Wohnzimmer vor dem Fernseher zu Abend und schauten dabei die Serien, die sich meine Gasteltern jeden Abend ansahen. Viel geredet haben wir dann also auch nicht.
Mit meiner Gastmutter hatte ich bis zum Ende hin ein gutes Verhältnis, mit meinem Gastvater verstand ich mich zwar gut, jedoch redeten wir nicht so viel. Ich fühlte mich sehr wohl und willkommen in meiner Familie und ich denke ich konnte mich so weit integrieren, dass ich vorübergehend wie ein Teil der Familie behandelt wurde.


Rückblickend hätte ich mir gewünscht, dass ich mir mehr Mühe im zweiten Projekt gegeben hätte. In dem ersten Projekt hatte ich vormittags nicht sehr viel zu tun außer Unterrichtsstunden vorzubereiten, da die Kinder in der Schule waren. Anfangs hatte ich nach Schulschluss einen sehr strikten Zeitplan an Unterrichtsstunden geben, Hausaufgabenbetreuung, Therapie etc. Nach einer Zeit wurde meine Hilfe allerdings nicht mehr so viel benötigt, weswegen ich weniger mit den Kindern unternehmen konnte. Ich war etwas enttäuscht, langweilte mich des Öfteren und war froh über den Wechsel im Januar. Nachdem es mich so viel Anstrengung und Zeit gekostet hatte mich im ersten Projekt richtig zu integrieren und ich letztendlich etwas enttäuscht war, hatte ich nicht mehr richtig die Motivation mich komplett auf das neue Projekt und die Lehrer einzulassen. Ich habe mir Mühe gegeben, aber ich weiß, dass ich es noch besser hätte machen können.
Auch hätte ich gerne die Sprache gelernt, Kannada, doch da ich vor allem hier war um den Kindern Englisch beizubringen war es schwierig richtig in die Sprache zu kommen. Auch gab es genug andere Dinge, mit denen ich mich im Ausland auseinander gesetzt habe, weswegen es nicht mein wichtigstes Ziel war sie zu lernen. Ein paar Begriffe und Redewendungen habe ich zwar gelernt, aber ich würde trotzdem gerne mehr verstehen und reden können.

Ansonsten denke ich, dass ich in dem Jahr viel über kulturelle Unterschiede gelernt habe. Anfangs kam mir alles so fremd vor, heute muss ich danach suchen was anders ist als in Deutschland. Dabei
beziehe ich mich nicht nur auf meine Umgebung (Kühe die auf der Straße herumlaufen, Männer in Lungis, Frauen in Saris, die indische Bauweise der Häuser, die ungleichmäßigen Gehsteige, die
vielen Rikshas und Motorräder und vieles mehr) sondern auch auf Verhaltensweisen der Leute in meiner Umgebung wie Redensarten, Körpersprache etc. Heute muss ich überlegen, wie es in Deutschland aussieht, wie die Menschen aussehen, wie sie in bestimmten Situationen reagieren. Ich habe mich in Indien eingelebt und Teile der Kultur kennen, leben und lieben gelernt.
Indien hat mir auch Geduld beigebracht, denn mit dem Straßenverkehr in Indien kann man denselben Zielort an manchen Tagen schnell erreichen, manchmal braucht man allerdings doppelt so lange. Zeit spielt in Indien keine so große Rolle. Es macht selten Leuten etwas aus, wenn man eine halbe Stunde später den Treffpunkt erreicht als abgemacht. Warten ist zur Normalität geworden. Ich habe auch gelernt, mehr auf mich allein gestellt zu sein und mit Problemen selbstständiger und offener umzugehen. Mittlerweile gehe ich mehr auf Leute zu und bin auch selbst offener für fremde Menschen und Ansichten.
Ich denke es war gut, dass ich im ersten Projekt vorerst alleine war, so musste ich mich mit allem direkt auseinandersetzen und habe mich nicht an einen anderen Freiwilligen gehangen. Dadurch habe ich meine Selbstständigkeit lernen können. Trotzdem konnte ich mich bei Fragen oder Problemen jederzeit an meine Betreuer von ICDE wenden und ich konnte mit Unterstützung rechnen. Ich denke aber, dass ich die Betreuer nicht dringend brachte, da ich alles wichtige mit den Betreuern vor Ort, also denen im Projekt oder der Gastfamilie, absprechen wollte, da ich bei ihnen lebte und mit ihnen klarkommen musste. Da wollte ich selbst schaffen.


Auf fachlicher Ebene habe ich ebenfalls eine Menge gelernt. Ich hatte vorher keine Erfahrung mit der Arbeit mit Kindern, insbesondere keine mit behinderten Kindern.
In dem Kinderheim fand ich es anfangs schwierig mit so vielen Kindern umzugehen und Respektsperson und Freund gleichzeitig zu werden, den richtigen Ausgleich zu finden. Doch mir gefiel die Arbeit mit den Kindern und ich habe seitdem nicht mehr so viel Respekt davor mit ihnen zu leben und zu arbeiten.
Mit behinderten Kindern zu arbeiten konnte ich mir vor meinem Freiwilligendienst nicht im geringsten vorstellen, wahrscheinlich, weil ich nie mit welchen in Kontakt gewesen war und ich etwas Angst vor dieser „Fremde“ hatte. Wie sollte ich mit ihnen umgehen?
Doch ich lernte nach und nach in „Sneha Kiran“, der Schule für Behinderte, dass es schön ist mit ihnen zu arbeiten und nicht etwa merkwürdig oder erschreckend. Sie waren ehrlicher als die Kinder im Kinderheim, die manchmal versucht hatten mit kleinen Schwindeleien Vorteile für sich herauszuziehen oder den Unterricht einfach aus Spaß zu stören. Die Kinder mit Behinderungen waren ehrlicher, sie hörten auf einen und nach ein paar Tagen merkte ich, dass man sie genauso zu behandeln musste wie Kinder ohne Behinderung, außer, dass sie mehr Unterstützung, Betreuung und Zuwendung brauchten. Mir machte die Arbeit mit ihnen bald großen Spaß, ich fühlte mich gebraucht und half dementsprechend auch gerne.


Ich hatte mir das Jahr Indien anders vorgestellt, wobei ich nicht sagen kann, ob besser oder schlechter. Einfach anders. Ich war mit keinen großen Erwartungen oder Vorstellungen nach Indien gegangen, ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein könnte. Das erste halbe Jahr verbrachte ich in diesem modernen Kinderheim in Bangalore, was für mich nicht sehr anders erschien als in Deutschland, weswegen ich mich schnell einbringen konnte. Das Indien, welches ich ein halbes Jahr später in Mysore erlebte und lebte, war für mich schon ein sehr großer Kontrast und mehr das, was ich mir unter Indien vorgestellt hatte. Das Haus in dem ich lebte war kleiner, es lief viel indisches Fernsehen, ich lernte indisch zu kochen und ich konnte nach meiner Arbeit noch etwas unternehmen, beispielsweise auf den Markt gehen und das Treiben dort beobachten. Ich konnte die indische Kultur sehen und leben, ich war nicht mehr so abgeschirmt von dem normalen alltäglichen Dinge der Inder wie beim ersten Projekt. Ich sah nicht nur noch zu, sondern war Teil geworden.